Die Mittelbayerische über Talentbindung

In der Mittelbayerischen Zeitung vom 23./24.01.2021 ist ein Artikel von Gerd Winkler über Talentbindung und Talententwicklung im Raum Regensburg erschienen. Mit dabei ist auch ein Interview von VP Leistungssport Ben Schulze.


Es fehlt an Trainingszeiten, Sportinternat und Schulkooperationen

Alexandra Mazzucco machte vor gut zehn Jahren den Auftakt: Der ESV kann ambitionierte Talente auf Dauer nicht halten

Von Gerd Winkler, Mittelbayerische Zeitung

REGENSBURG Handball-Nationalspielerin, deutsche Meisterin und DHB-Pokalsiegerin: Die beim Bundesligisten Union Halle-Neustadt unter Vertrag stehende Alexandra Mazzucco ist das Vorbild für ambitionierte Handball-Talente des Drittligisten ESV 1927 Regensburg. Im Sommer 2009 wechselte die Linkshänderin als 16-Jährige von der SSG Metten donauaufwärts in die Domstadt, brachte die Musterkarriere ins Laufen. Zwei Jahre später unterschrieb Mazzucco beim sechsfachen deutschen Meister HC Leipzig den ersten Profivertrag. “Ich habe vorher eine Trainingswoche reingeschnuppert”, erinnert sich die heute 27-Jährige: “Es hat alles gepasst und die Spielerinnen haben im selben Viertel gewohnt.” Sie hätte sich keine Gedanken um soziale Kontakte machen müssen, neben sieben wöchentlichen Trainingseinheiten und Studium “war keine Zeit, um Heimweh zu kriegen”.

2017 mussten die Sachsen Insolvenz anmelden, die im Rückzug in die 3. Liga mündete. Mazzucco wechselte zu Serienmeister Thüringer HC. Ohne Umzug, denn: “Studiert habe ich in Leipzig, das war schnell meine zweite Heimat.” Drei Jahre pendelte die Rechtsaußen 140 Kilometer einfach nach Erfurt ins Training sowie 190 Kilometer zum Heimspiel nach Bad Langensalza, ehe der Aufwand zu viel wurde. Seit vorigen Sommer ist sie für das 50 Kilometer entfernt liegende Halle-Neustadt am Ball.

Handball rund um die Uhr

Auch beruflich läuft's: Als befristet angestellte wissenschaftliche Mitarbeiterin der Uni Leipzig schrieb Mazzucco eine Initiativbewerbung an den Handballverband Sachsen - mit Erfolg: Seit September habe sie Projekte abzuwickeln. Gefühlt nun Handball rund um die Uhr, von Montag bis Sonntag.

Während Mazzucco als jüngerer A-Jugendjahrgang nach Regensburg wechselte, wurden ihre Nachahmerinnen - Heimatverein, ESV 1927, Leistungszentrum - früher flügge. Im gleichen Alter ist Anja Kreitczick (Jahrgang 2000) im Sommer 2016 nach zwei Jahren im Eisenbahner-Trikot nach Leipzig übergesiedelt. Ein Jahr zuvor machte sich die Torfrau in einer Probewoche ein Bild. Bei den Sachsen war Kreitczick in einem erweiterten Internat, einer Art betreutem Wohnen untergebracht. Am Sportgymnasium Leipzig ließen sich die acht Trainings gut koordinieren.

Nach der Insolvenz des HCL gelang mit dem Perspektivkader, dem deutschen B-Jugendmeister 2017, im Frühjahr 2019 der Aufstieg in Liga zwei. “Über kurz oder lang ist die erste Liga unser Ziel”, sagt Kreitczick. Erst mit 13 Jahren entdeckte sie beim TSV Mainburg den Handball für sich, nun in Leipzig wird die 20-Jährige von DDR-Torwart-Legende Wieland Schmidt gefördert. Seit 2015 spielt sie im Beach-Nationalteam.

Heimatverein DJK Berg, Sprungbrett ESV 1927, seit 2017 Thüringer HC: Die Karriere Laura Kuskes aus dem Jahrgang 2001 ist eine Blaupause zu der von Anja Kreitczick. Ursprünglich spielte Klein-Laura Fußball, wurde als einziges Mädchen nicht richtig akzeptiert. Kein Schaden ohne Nutzen: Als 10-Jährige meldete sich Kuske in der Handballabteilung an. Vor dreieinhalb Jahren wurde sie von einem Talente-Scout des THC per Facebook akquiriert und zu einer Probewoche in Erfurt animiert.

“Im Voraus war für mich klar, dass ich das mache”, hat sich die Torfrau gedacht: “So eine Chance kriegst du nicht oft, abbrechen kann man ja wieder”. Zwei Verletzungen - Kreuzbandriss, ausgekugelte Schulter - hätten ihr eineinhalb Jahre gekostet. Dennoch: “Auf Dauer möchte ich fester Bestandteil des Torhüter-Duos werden.”

Bei der HG Hemau erlernten Lucia Kollmer (Jahrgang 2002) und Mia König (Jahrgang 2005) das Einmaleins des Handballs. Das Duo wechselte 2014 bzw. 2018 zum ESV, entwickelte sich weiter, ging den nächsten Schritt: Kollmer zum Leistungszentrum des THW Kiel, König vorigen Herbst zum Bundesligisten Borussia Dortmund. Kollmer ist im Sommer ins Leistungszentrum zu Bundesligist Buxtehuder SV gewechselt, König steht vor dem ersten Junioren-Länderspiel.

Auch ESV-Eigengewächs Franzi Peter zog zunächst 2015 nach Leipzig, ein halbes Jahr später kehrte die Ex-Jugend-Nationalspielerin zurück. “Vom Handball her war es super, aber ich habe Heimweh gekriegt”, kommentiert die 22-Jährige: “Ich bin halt ein Familienmensch, hatte meine Geschwister immer um mich rum.”

Dass zu Höherem berufene Talente den ESV 1927 verlassen, ist schmerzhaft, so Abteilungsleiter Dieter Müller: “Wir verrichten sehr gute Arbeit, aber als Funktionär darf ich den Sportlern nicht im Weg stehen.” Lockt das ein Leistungszentrum, “bearbeiten wir kein Mädel, dazubleiben. Im Gegenteil, wir sagen: Probiere es.” Der ESV könne nicht mithalten, er rechnet vor: “Wir haben 20 Mannschaften im Spielbetrieb, die Kernzeit für Training ist 17 bis 21, 22 Uhr. Maximal 25 Stunden können wir verteilen.” Selbst das ambitionierte Drittliga-Team muss mit drei Einheiten auskommen. Indes beklagt Dieter Müller den “Egoismus von Vereinen in der Oberpfalz: Die verhindern den Wechsel zu uns, lassen ihre Talente verhungern, anstatt sie den nächsten Schritt gehen zu lassen.”

Thema Ballsporthalle

Müller vermisst zudem eine repräsentative Ballsporthalle in Regensburg, von der Handball, Basketball oder Futsal enorm profitieren würden. Das sei fundamental, um sich in einer sehr hohen Liga zu etablieren. “Wir haben eine tolle Halle, in der wir 500 Zuschauer unterbringen und die Akustik ist sehr gut”, erläutert Müller: “Aber wenn du Sponsoren und Investoren ziehen willst, musst du mehr bieten! Die wollen sich zeigen können und wahrgenommen werden.” Eine Hallensportart müsse ein Event bieten, nicht nur das Spiel an sich. Es benötige ein Foyer und VIP-Bereiche, die zu vermarkten sind. “Das beste Beispiel ist die Arena des SSV Jahn. Seitdem geht's steil bergauf.”

 

INTERVIEW mit Ben Schulze, BHV-Vizepräsident Leistungssport

Herr Schulze, warum verliert der bayerische Handball seit vielen Jahren die ambitioniertesten weiblichen Talente?
In Bayern fehlt uns aktuell ein Zugpferd bei den Frauen, wie es bei den Männern mit dem HC Erlangen, HSC Coburg im Fränkischen und TuS Fürstenfeldbruck im südbayerischen Raum der Fall ist. Für uns als Verband ist das Ziel, dass wir eine Profimannschaft in Bayern haben, die dauerhaft in der ersten oder zweiten Liga positioniert ist.

In der Regel wechseln Talente mit 14 oder 15 Jahren zu den Leistungszentren nach Erfurt, Leipzig, Dortmund oder Buxtehude.
Bis Anfang der B-Jugend gehören wir deutschlandweit mit zu den führenden Landesverbänden, vorigen März haben wir bei der Leistungssport-Sichtung des DHBs das Siegerteam gestellt. Das zeigt, dass Verband und Vereine bis zur C-Jugend eine gute Förderung bestreiten.

Und dann?
Die weitergehende Förderung ist schwierig, das ist ein komplexes, zusammenhängendes System. Es sind professionellere Vereinsstrukturen und eine Erhöhung des Trainingsumfangs nötig. Auch bei den Frauen: Für ein Drittliga-Team anstatt dreimal Training in der Woche fünfmal.

Welchen Beitrag kann der BHV leisten?
Die strukturellen Voraussetzungen müssen gegeben sein. Ein Trainingszentrum und individuelle Schulkooperationen. Dann können wir gut fördern, haben eine Perspektive für das Ausrichten von Sichtungen und Stützpunkttrainings.

Und die Idealvorstellung, damit keine Talente mehr abwandern?
Das geht in Richtung Leistungssport. Das heißt, jeden Tag Sport: In der A-Jugend nahezu nur Handball, in der B-Jugend einmal wöchentlich Ausgleichssport, in der C-Jugend zweimal.

Denkbare Standorte wären?
Vereine im Frauenbereich wie den ESV 1927 bräuchten wir in Bayern noch mehr. Regensburg ist ein Aushängeschild. Erlangen ist im weiblichen Bereich im Kommen.

 

Hier ist das Interview im Original zu finden.

 

Text: Gerd Winkler/ Mittelbayerische Zeitung

Foto: Schulz/ Eibner-Pressefoto

 

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